Aktuelle Vergeblichkeitsforschung
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Abich: Besser nicht antworten
Hans Abich war ab 1961 Programmdirektor und ab 1968 Intendant von Radio Bremen, von 1973 bis 1978 Programmdirektor des Deutschen Fernsehens (heute »Das Erste«). Er war auch Filmproduzent, und die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste machte ihm zum Namensgeber eines Preises. Die Namensgebung wurde nun zurückgenommen, und auch die Historische Kommission der ARD beschäftigt sich mit Hans Abich.
Es geht um die parteipolitische Karriere des jungen Abich im NS-Staat. Die ist seit langem ebenso bekannt wie unbeachtet.
Die Wikipedia ist auch in diesem Fall keine empfehlenswerte Quelle. Sie tut kund: »Danach [nach dem Abi 1937] begann er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Berlin sowie der Politik und der Auslandswissenschaften an der Hochschule für Politik. 1943 absolvierte er das erste juristische Staatsexamen, 1944 arbeitete er als Referendar an einem Gericht in Salzburg.« Nicht falsch, aber relevante Tatsachen fehlen.
Lutz Hachmeister berichtet in seinem 1998 erschienenen Buch Der Gegnerforscher, in dem es um den SS-Führer Franz Alfred Six geht, über die Funktionen Abichs. In der FAZ ist zu lesen:
Der Medienforscher sagte, er selbst habe einmal versucht, mit Abich über seine Zeit im Propagandaministerium zu sprechen, dieser habe jedoch nicht darüber reden wollen oder können: »Er hat irgendwie versucht, das zu umgehen.«
So ging es meinem Vater auch. Er kannte Abich als Student der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und musste ihn mehrfach um Bescheinigungen angehen, die Abich als »Beauftragter des Studentenführers« ausstellte. In den 1970er Jahren schrieb er einmal an Abich, weil er etwas über dessen Erinnerungen an Albrecht Haushofer erfahren wollte. Beide kannten ihn als Professor für Geopolitik an der Berliner Universität. Haushofer wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet, schrieb im Zuchthaus die Moabiter Sonette und wurde wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet. Aber Abich konnte oder wollte nichts dazu sagen, obwohl er sicher etwas wusste. Er antwortete mit einer belanglos-freundlichen Ansichtskarte.
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Rundfunkethik
MDR-Intendantin Karola Wille in einem Interview mit dem Tagesspiegel dreht die Gebetsmühle. Als Chefin einer Anstalt, die unter anderem auch journalistische Aufgaben wahrnimmt, muss sie wissen, dass zwei der drei von ihr erwähnten/zitierten Punkte unmöglich zu erfüllen sind. Das ließe sich durch seriöses Recherchieren im reichhaltigen hundertjährigen Schatz der Kommunikationsforschung seit Lippmann leicht herausfinden.
Es gab seit 1961 zahlreiche Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichtes. Insofern ist Rundfunkfreiheit ein Grundrecht, das immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss. Diese Freiheit geht einher mit unserer Verantwortung, der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger zu dienen. Dazu gehört die konsequente Trennung von Fakten und Meinungen, das unverzerrte Darstellen der Wirklichkeit und seriös zu recherchieren.
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Noch ohne Wehklagen
Ithiel de Sola Pool, der im Umfeld von Lazarsfeld und Lasswell 1959 das Unternehmen Simulmatics mitgründete, das Wahlprognosen und im Vietnamkrieg strategische Berechnungen verkaufte, war 1968 mit einem Beitrag an einem Sonderheft von Science and Technology beteiligt, in dem auch J. C. R. Licklider mit zwei Ko-Autoren den bahnbrechenden Artikel ›The Computer as a Communication Device‹ veröffentlichte. Viele der Beiträger waren sich darin einig, dass dem Computer nicht als einfachem Rechenknecht, sondern als Medium die Zukunft gehören würde. Die prognostische Qualität von Pools Aussagen ist erstklassig. Die gesellschaftlichen Folgen der computergestützten Kommunikationsmöglichkeiten sah er ganz klar. Immer wieder – in den 1980ern, als das Fernsehen sein Publikum »zersplitterte«, und heutzutage, wo die sogenannten sozialen Medien dem gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich den Rest geben – wird mit den Schlagworten argumentiert, die Pool 1968 schon bereitstellte.
Ausschnitt aus: Jill Lepore If Then. How the Simulmatics Corporation Invented the Future. New York: Liveright, 2020, 277
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Boulevard-Literaturwissenschaft
»Zeitgenössisch«
Die deutsche Literaturwissenschaft ist seit den Diskursturbulenzen in den 1980er Jahren ebenso wie der Literaturmarkt still und heimlich wieder zu den Standards des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgekehrt – content over form, platter Realismus, Warten auf den »großen Roman«, dazu Agonie der Literaturkritik und ihre Ersetzung durch »literarisches Leben«.
Kennzeichnend dafür ist die offenbar ernstgemeinte Problematisierung der Gegenwarts-Adäquatheit literarischer Prosa. Fehlt ihr diese Eigenschaft, wenn sie in den 1990er Jahren nicht die Vereinigung von BRD und DDR thematisiert und heute nicht die Covid-19-Pandemie? Gibt es keine anderen Kriterien für Gegenwärtigkeit als solche Bezüge zur politischen und kulturellen Umwelt der Schreibenden? Die im Zitat von Johannes Franzen angeführten »historischen Marker« lassen sich bestimmt für quantitative Inhaltsanalysen codieren, sind aber noch lange keine Belege für die Gegenwärtigkeit von Texten oder der Geistesverfassung von Autorinnen und Autoren. Die aktuelle Bearbeitung irgendeines sprachlichen Materials – das aus der Mündlichkeit, aus Dokumenten, aus der Phantasie oder aus purer Berechnung entsprungen sein mag – liefert weitaus mehr Optionen zur Bestimmung der Zeitgenossenschaft als Franzen offenbar wahrhaben will. Der Gedanke, dass die Umwelt selbst, quasi ein Wurmloch durchquerend und die Dimension wechselnd, durch ihre nunmehrige Anwesenheit im Text dessen Gegenwärtigkeit zertifiziert, ist hochgradig mystizistisch. Prosa, in der nichtrauchende Smartphone-User figurieren, die sich vor virengeschwängerten Aerosolen durch FFP2-Masken schützen und im Gespräch Erinnerungen über einstürzende Doppeltürme austauschen – ist weiter von der Gegenwart entfernt, als sie selbst wahrhaben möchte. Und eine Literaturwissenschaft, die nach solchen »Markern« sucht, hat schon abgedankt.
Artikelauszug: Johannes Franzen Autonomie, bloß wie? Es ist schwierig, keinen Zeitroman zu schreiben FAZ 15.09.2021