Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Dreimal Robbe-Grillet

    Die Radiergummis ist ein äußerst sachlich, distanziert und detailliert erzählter Kriminalroman. Vor dem Hintergrund einer nicht näher beleuchteten Verschwörung, bei der systemwichtige Persönlichkeiten aus dem Weg geräumt werden sollen, findet in einer nordfranzösischen Stadt ein nicht gelingendes Attentat auf einen Wissenschaftler statt, der sich daraufhin für tot erklären und somit aus dem Verkehr ziehen lässt. Ein Sonderermittler kommt in die Stadt und verbringt einen Tag mit intensiven Aufklärungsarbeiten, um dann schließlich den noch einmal in seine Wohnung zurückgekehrten Wissenschaftler zu erschießen, den er für den Attentäter des Vortags hält. Beeindruckend ist die durchgehaltene distanzierte Erzählweise, die jeder Figur ihr jeweils aktuelles Wissen zugesteht und Handlungen nur aufgrund dieses Wissens, nicht etwaiger anderer Motive in Bewegung setzt. Wurde 1969 verfilmt und kam 1972 in die Kinos: Les Gommes/Ein Tag zuviel, R: Lucien Deroisy und René Micha.

    Ein gefundenes Fressen für die akademische Diskussion über den Nouveau Roman bzw. das nunmehr mit anmaßender Geste erklärte Ende des alten war La Jalousie. Dass es zu dieser Geste kam, ist verständlich im Kontrast zur übermäßig psychologisierenden Erzählweise der Tendenzliteratur von Camus und Sartre. Das kleine Buch macht aber auch deutlich, warum es so leicht war, diese Diskussionsbeiträge von Butor, Sarraute und eben Robbe-Grillet zu ignorieren und einfach Romane in der Tradition des 19. Jahrhunderts weiter zu schreiben, und das bis heute. Reizvoll an dem Text ist die Erzählperspektive. Der all-anwesende Erzähler bleibt quasi aus dem Text ausgeschnitten, er ist ein Beobachter, der selbst dann von ko-präsenten Personen ignoriert wird, wenn ein Glas oder ein Gedeck für ihn auf dem Tisch stehen. Diese Überspitzung der Ich-Perspektive, in der das Ich gelöscht ist, eignet sich vorzüglich zur Vermittlung der unausgesprochenen Emotion, die den Bericht trägt. Die beiden Hauptfiguren sind A…, offenbar die Partnerin des abwesenden Erzählers, und Franck, ihr gemeinsamer Freund. Deren Bewegungen zueinander und ihre zumeist vollkommen belanglosen Dialoge sind eingebettet in ausufernd detaillierte Beschreibungen von Örtlichkeiten in mikro-geographischer Präzision, die selbst die Anordnung von Gläsern auf dem Terrassentisch oder die Winkel der abgespreizten Arme eines auf dem Bett liegenden Körpers erfasst. Das Geschehen des Romans ist offenbar irgendwo in Afrika angesiedelt. Wenn man sich immer wieder die Absicht Robbe-Grillets, die aggressive Erledigung von Psychologie, politischer Relevanz und ganz allgemein »Bedeutung«, vor Augen führt, erhält der eigentlich staubtrockene Text durch die Arbeit der Lektüre komische Züge und ist letztlich unterhaltsam.

    Ganz anders Die Wiederholung. Es gibt keine Objektivitätsbehauptung, es geht nicht um die Erzeugung von Authentizität, es gibt keinen Plot – oder nur Andeutungen von vielen Plots. Der Roman, dessen Geschehen im Berlin des Jahres 1949 angesiedelt ist – aber außer der Prozedur eines Sektorenübertritts nichts von der Atmosphäre der Stadt wiedergibt – spielt mit Identitäten, Zeitabläufen, Zitaten aus Literatur und Film. Es ist mühsam, das alles auseinanderzuklamüsern; vor allem macht es auch gar keinen Spaß. Zumindest mir fehlt derzeit der Antrieb, der mir eventuell einen interessierten Blick auf den Text ermöglichen könnte. Statt dessen finde ich viele Details nur öde (mit Ausnahme der sich durch das Buch hindurchziehenden Erschöpfung des/eines Protagonisten) und sogar einigermaßen widerlich. Robbe-Grillet lebt seine schon in den früheren Büchern angedeuteten sexuellen Phantasien nun expliziter aus, in deren Mittelpunkt immer 14- bis 16-jährige Mädchen stehen. Eine 16-jährige Hure »… flüsterte ganz freimütig, wenn er wünsche, sie im Stehen zu vergewaltigen, könne sie unverzüglich ihr Höschen ausziehen«, woraufhin ihr der Protagonist einen Kristalldolch in den Genitalbereich rammt. Die Übersetzung von Andrea Spingler tut möglicherweise ein Weiteres zur Einschränkung eines möglichen Lesevergnügens.


    Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953/2016), Die Jalousie oder Die Eifersucht (1957/1959) Die Wiederholung (2001/2002)

  • Ohne Heim und ohne Fahrt

    Wolfgang Schömels Buch, das von Klett-Cotta nicht verlegt wurde (obwohl nichts dagegen spräche, auch wenn eine Vertriebsabteilung höchstens ein finanzielles Break-even erwartet), kann bei Amazon erworben oder direkt gelesen werden. Der Roman hat zwei Erzählebenen. Recht stark ist die Kindheitsgeschichte aus den 1950er Jahren, die einen grausamen, psychisch verkapselten Vater fokussiert. Recht öde und aus trivialen Versatzstücken konstruiert ist die Gegenwartsebene. Die Hauptfigur ist ein Professor kurz vor dem Ruhestand, der über die psychischen und sozialen Folgen von Kinderlosigkeit forscht. Dass er selbst einen vierzigjährigen Sohn hat, erfährt er – tada! – gegen Ende des Buchs. Seine Beziehungen zu Frauen sind auf Sex und Narzissmus basiert und haben nie funktioniert (eine frühere Ehefrau hat partout eins seiner Bücher nicht gelesen). Rettung bringt jetzt eine brasilianische Studentin und Prostituierte, die seinetwegen von ihrem Beruf ablässt und eine Karriere als Kulturwissenschaftlerin aufnimmt. Die berufliche Sphäre des Professors ist äußerst dürftig gezeichnet: Frontalunterricht in Vorlesungen und ein universitäres Arbeitszimmer als einsame Klause. Das entspricht dem tatsächlichen Betrieb einer heutigen Universität so gar nicht, in der es Institute und permanente Kommunikation gibt (die man mögen mag oder nicht).

    Durch das Buch geistern Andeutungen einer von islamischen und kulturalistischen Kräften zersetzten Bundesrepublik, in der Terrorakte und Massenselbstmorde auf der Tagesordnung stehen. In Innenräumen sind Evidenzmonitore installiert, die unter anderem nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr registrieren. An Universitäten macht sich eine Art Gender-FBI breit. Diese Seitenblicke bleiben ohne Bezug zur Story und daher belanglos. An Houellebecq mag dabei denken, wer will.

    Die Erzählung lässt ihre Leser im Unklaren darüber, ob der Protagonist die Heilung seiner Alternsangst in der Transzendenz oder im Sex findet. Diese, seinen eigenen Selbstbehauptungswillen betreffende Frage verlagert er in einem Epilog auf die ganz große Bühne des »Selbstbehauptungswillens unserer Kultur«. Außer ihm selbst sind dort aber keine weiteren Protagonisten anzutreffen.

    Tidbits:

    [•] Das Buch sei ein Massenmedium, heißt es in Schömels Buch. Das findet in der Wissenschaft keine Unterstützung – nur Presse (seit Ende des 19. Jahrhunderts), Radio und Fernsehen sind anerkannte Massenmedien.

    [•] Das Phonogeräte von Körting gab es in den 1950ern und 1960ern exklusiv bei Neckermann, nicht bei Quelle.


    Wolfgang Schömel: Heimfahrt. Amazon 2018

  • Gipfelfetischismus

    Der Blick vom Gipfel als Medium der Befreiung des Geistes – eine romantische Phantasie des noch nicht emanzipierten Bürgertums. Viel besser gefällt mir die aristokratische Praxis von alpinistischen Reisenden, die sich auf Passhöhen die Augen verbinden ließen. Die Aufladung der Höhe – von »oben« und »unten« – mit Bedeutung hat mehrere Quellen. Die griechischen Götter wohnten auf dem Olymp, und Moses brachte die Gesetzestafeln vom Berg Sinai herunter. Moderne Organigramme setzen diese religiöse Metaphorik fort. Hierarchien wurden allerdings schon von den Physiokraten als ungeeignete Organisations- und Darstellungsform der Naturaneignung kritisiert. Neuerdings werden in Managementmodellen Organisationspyramiden durch kreisförmige Darstellungen von Holokratien ersetzt. Zeit also, die Frage, warum Menschen auf Gipfel steigen sollten, ernsthaft zu reflektieren. Bewunderer von Freakshows und der Bergsteigerei sind da keine guten Gesprächspartner.


    Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination. Aus dem Englischen von Gaby Funk. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021

  • Verschenkte 20 Euro

    Le Tellier wird die Mitgliedschaft in der Oulipo-Gruppe nachgesagt, deren Autoren seit 1960 vergnügliche Formexperimente machen. In Die Anomalie gibt es nur einen Hauch von Kombinatorik und eine Reihe von Anspielungen auf Jarry, Perec und andere Größen. Ansonsten ist der Text leider ein triviales, uninteressantes Konstrukt, das einige SF-Elemente und Anspielungen auf Probleme der Gegenwart (Corona, Überwachung, schräge Präsidenten-Persönlichkeiten) verbaut.

    Ich bedauere die Ausgabe von 19,99 für das E-Book. Verleitet dazu hat mich ein FAZ-Rezensent und Literaturwissenschaftler, dessen Namen ich gar nicht nochmal nachschlagen will.

    Hervé Le Tellier erhielt für den 2020 erschienenen und im laufenden Jahr 2021 spielenden Roman Die Anomalie den Prix Goncourt. Eine hohe Auszeichnung, wenn auch nur mit 10 Euro datiert. Die Story: Dasselbe Flugzeug taucht nach dem Durchqueren einer Gewitterwand zweimal wieder auf, im Abstand von drei Monaten (und ein drittes Mal nach einem halben Jahr). Von der Maschine und allen Insassen existieren jetzt Duplikate. Die amerikanischen Geheimdienste sind erregt, organisieren Befragungen und lassen Hypothesen aufstellen. Sie folgen dabei dem Protokoll Nr. 42, das einige Jahre zuvor von einer Graphentheoretikerin und einem Mathematiker für den Fall einer komplett unwahrscheinlichen Luftfahrt-Katastrophe entwickelt worden war. Die Aufklärung und spätere Zusammenführung der menschlichen Dubletten wird anhand einiger Einzelfälle beschrieben und enthält im Rahmen des Plots nur Erwartbares. Die Hypothesen zur Erklärung des Vorgangs sind ebenfalls nicht sonderlich spannend. Das Flugzeug könnte durch ein Wurmloch geflogen sein, es könnte in eine Art 3-D-Fotokopierer geraten sein (mit der Besonderheit, dass die Kopie früher aus dem Gerät herauskommt als das Original), und es könnte sich um eine Simulation handeln, die durch intelligentere Wesen (oder Menschen aus der Zukunft) aus Studienzwecken konstruiert wurde.

  • Geständnis

    Ich war wohl zwölf Jahre alt. In der Schule wurden Freiwillige für einen Bastelwettbewerb gesucht. Etwa die Hälfte der Klasse meldete sich, ich nach kurzem Zögern auch. Für die Anmeldung musste ein Formular ausgefüllt werden, die Interessenten erhielten einige Tage später in der Schule eine Papprolle mit diversen Inhalten. Darunter war ein großes Foto einer Caravelle, eines in Frankreich entwickelten Düsenflugzeugs, das unter anderem von der Scandinavian Airlines (SAS) eingesetzt wurde und wohl auch transatlantische Strecken bewältigen konnte. Außerdem lagen mehrere Schnittmusterbögen und eine Anleitung zu ihrer Nutzung bei, ferner schöne Pappe und Transparenzpapier. Die Aufgabe bestand darin, ein recht großes Pappmodell (nach meiner Erinnerung nahm es einen halben Küchentisch ein) der Caravelle zusammenzukleben. Das Flugzeug hatte an der Heckflosse das SAS-Logo, die Fluggesellschaft hatte den Wettbewerb organisiert, und die Siegermodelle sollten irgendwo in der Innenstadt ausgestellt werden.

    Ich war absolut kein talentierter Bastler, mir fehlten auch Umsicht und Geduld für die komplexe Aufgabe. Der Flugzeugrumpf geriet mir ein wenig beulig, die abgerundete Nase blieb auch nach dem zehnten Versuch eine spitze Tüte. Nach zwei, drei Nachmittagen gab ich auf und legte den Papphaufen auf einen Schrank, mit der halbherzigen Vornahme, nach einer Weile einen Versuch zur Komplettierung zu unternehmen.

    Dazu kam es natürlich nicht.

    Einige Wochen später kam der stellvertretende Schulleiter herunter auf den Übungsplatz neben dem Schulgebäude, auf dem wir im Sportunterricht gerade Hochsprung übten. Er rief mich heran und sagte, in Kürze käme Besuch, zwei Herren, die mich sprechen wollten. Sie könnten kein Deutsch, und ich wüsste wohl, wie man sich auf Englisch bedankt. Ich sagte zweimal »Thank you«, und er zog offenbar befriedigt ab. Tatsächlich kamen eine Weile später zwei Männer mit einem sehr großen Karton, steuerten den Sportlehrer an, dieser rief mich heran, und die Beiden redeten intensiv auf mich ein. Ich hatte erst seit einigen Monaten Englischunterricht und verstand kein Wort. Schließlich reichten sie mir den Karton. Ich war verwirrt, aber brachte leise ein »Thank you« heraus, woraufhin sie sich nach einem weiteren unverständlichen Wortschwall entfernten. Es waren Angestellte der Fluggesellschaft SAS, was ich an den Abzeichen an ihren Jacketts erkannt hatte.

    Der Sportlehrer war offenbar in das Komplott eingeweht. Er rief alle zusammen, um uns zu erklären, dass ich den Bastelwettbewerb gewonnen hätte und mir gerade der erste Preis übergeben worden sei. Er gratulierte mir und forderte mich auf, den Karton zu öffnen. Er enthielt ein großes Flugzeugmodell aus Blech, eine Caravelle mit SAS-Logo. Es hatte einen Elektromotor und konnte auf dem Boden herumfahren, gesteuert durch eine drahtgebundene Fernbedienung. Ich war sehr verwirrt, merkte jedoch schnell, dass sich meine Mitschüler nicht nur für das Preisgeschenk interessierten, sondern weitere Fragen hatten, die ich nun schlüssig beantworten musste. Die fertigen Pappmodelle mussten nämlich einige Wochen zuvor in der Schule abgegeben werden, und niemand hatte mich mit meinem Modell gesehen. Ich sagte, dass ich es an dem betreffenden Tag nicht der Gefahr hatte aussetzen wollen, in der Straßenbahn beschädigt zu werden und ich es daher am Nachmittag selbst zur SAS, die eine Niederlassung in der Stadt hatte, gebracht hätte.

    Zuhause erklärte ich meinen Eltern, es hätte offenbar die Auslosung eines Preises unter den eingeschriebenen Teilnehmern des Wettbewerbs gegeben, und ich hätte dieses Flugzeug gewonnen. Es machte mir übrigens keinen Spaß, es in der Wohnung herumfahren zu lassen, und ich schenkte es nach ein paar Tagen einem drei Jahre jüngeren Jungen, der bei uns im Haus wohnte.

    Das preisgekrönte Modell sah ich mir im Foyer der SAS-Niederlassung an. Es war perfekt, ich hätte so etwas nie hinbekommen. Auf einem Schild vor dem Flugzeug stand mein Name. Ich brauchte lange, um mit meiner Verblüffung fertig zu werden. Mit wem hätte ich darüber reden können? Wie hätte ich den offenkundigen Fehler der Preisjury aufklären können? Wie war der Fehler überhaupt zustande gekommen? Bis heute scheint es mir immer noch am wahrscheinlichsten, dass der eigentliche Sieger seinem Modell einen unleserlichen Zettel mit seinem Namen beigegeben hatte und durch Abgleich mit den zuvor abgegebenen Formularen dann die Wahl auf mich fiel. Einige Wochen lang befürchtete ich, dass der eigentliche Gewinner sich nach einer Inspektion des ausgestellten Modells melden und beschweren könnte und ich zu einer peinlichen Befragung durch die Schulleitung oder durch die Fluggesellschaft vorgeladen würde. Das geschah aber nicht.

    Für eine Wiedergutmachung ist es jetzt sicher zu spät. Es drängt mich jedoch dazu, vor aller Welt zu erklären: Es tut mir leid, unbekannter Bastler! Du hattest den Preis wirklich verdient.