Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Photos mit Nimbus

    Eine Ausstellungs-Ankündigung mit einem sehr dunkelgrauen Photo, das ein Stück Kathedralenwand mit Säulen, Stützen und Engel auf Podest zeigt. Auf der Einladung die Bemerkung, den Photos dieses Künstlers wohne eine besondere Aura inne …

    Photographien mit „Aura“, das ist bei strenger Lektüre von Walter Benjamin erstmal eine abenteuerliche Behauptung. Denn gerade an Photos begründet er den Verlust der Aura von Kunstwerken. Spätere Interpreten sehen allerdings durchaus Chancen für die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ und das unwillkürliche Wachrufen von Erinnerungsmomenten auch durch Photos – die ja nie unbearbeitet sind, nie „Knips-Realität“.

    Interessant für mich ist jedenfalls, dass Benjamin die Aura und den „Chock“ mit Epilepsie in Verbindung bringt – und in diesem Zusammenhang kennen wir ja Auren (auch bei Migräne) als somatische Erlebnisse. Er schreibt

    Die Bedeutung des Stückes »Perte d’auréole« kann nicht überschätzt werden. Es ist zunächst darin von außerordentlicher Pertinenz, daß es die Bedrohung der Aura durch das Chockerlebnis zur Geltung bringt. (Vielleicht kann dies Verhältnis durch Hinweis auf die der Epilepsie geltenden Metaphern geklärt werden.) Außerordentlich durchschlagend ist weiter der Schluß, der die Schaustellung der Aura weiterhin zu einer Angelegenheit von Poeten fünften Ranges macht. –

    Im Prosagedicht »Perte d’auréole« von Baudelaire geht es darum, dass ein Dichter angesichts des heftigen Verkehrs an einer Straßenkreuzung so schockiert ist („in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt“), dass ihm die „Aureole“ vom Kopf fällt. Danach erkennt ihn kaum noch jemand als Dichter, nur noch ein enger Freund. Das weitere Schicksal der Aureole stelle er sich so vor:

    Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, daß irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache!

  • Keine Kunst?

    Prompt: Bunker mit Öffnung in die Natur, Ottos Mops, Caspar David Friedrichs Wanderer,
    Bremer Dom. Bildgenerator: Canva.

    Von Friedrich hat Canva offenbar die Rückenansicht des erbärmlichen Mopses und die historische Gestalt der (leeren) Landschaft übernommen. Den Bremer Dom bildet bislang keine KI einigermaßen ordentlich ab.

    Aber darum geht es mir gar nicht. Mir geht es um den Kunstcharakter des Bildes, und das unter verschiedenen Aspekten.

    Darf ich und sollte ich unter Berufung auf Josef Beuys und seinen erweiterten Kunstbegriff dieses Bild als Kunst und mich selbst als Künstler ausgeben? Ich kann ja eine Signatur hineinkopieren, einen hochwertigen Ausdruck machen lassen und den Kunstmarkt damit bereichern.

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  • Shades of Terror

    Dieses Buch Dostojewskijs, dessen frühere Übersetzungen meist »Die Dämonen« getitelt waren, las ich jetzt zum ersten Mal. Es ist wider Erwarten eine sehr erheiternde Lektüre.

    Der Text erschien 1871/72 zuerst in Fortsetzungen in einer Zeitschrift. Dostojewskij war zu der Zeit 50 Jahre alt. Er war als Spielsüchtiger hoch verschuldet, litt zudem an Epilepsie, lag in einem ständigen Kampf – vor allem mit sich selbst – um seinen Glauben und allgemein um Religiosität. Dabei versuchte er unentwegt, das »Russische« gegen die westliche Zivilisation und Kultur profilieren. Dennoch ist die Darstellungsweise des Romans über weite Strecken entspannt, distanziert, ironisch. Eine der Hauptfiguren, der seit Jahrzehnten von einer reichen Witwe ausgehaltene gescheiterte Schriftsteller und Dozent Stepan Trofinowitsch Werchowenskij, ist ein emotional und mental instabiler Hypochonder. Der Sohn der Witwe und Mäzenin, Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin ist eine mindestens ebenso unausgeglichene Natur, zwischen Clownerie und Verzweiflung schwankend, extrem liberal auch in seiner Lebensführung, partiell Mitwirkender in revolutionären Zirkeln. Er kämpft um seinen Gottesglauben, übrigens nicht besonders überzeugend – hier kann der selbst an seinem Glauben zweifelnde Autor offenbar nicht über seinen Schatten springen. Die dritte männliche Hauptfigur ist der Sohn Werchowenskijs, Pjotr. Er ist der Organisator einer revolutionären Terrorzelle, die durch Brandstiftung und Mord einen Aufstand der Landbevölkerung initiieren will, ein durchtriebenes, gewalttätiges Chamäleon. Er verursacht schließlich Morde und Selbstmord in den eigenen Reihen; der Kampf gegen »Verräter« hat Vorrang vor den revolutionären Zielen. Dass die revolutionäre Bewegung, der diese Terrorzelle angehört, etwas mit der »Internationale« von Marx und Engels zu tun haben soll, deutet Dostojewskij zwar an, konkretisiert das jedoch nicht und scheint in dieser Hinsicht auch nicht sonderlich beschlagen oder interessiert zu sein. Ich konnte mich bei der Lektüre der Assoziation an deutsche K-Gruppen in den 1970er Jahren nicht erwehren. Das diktatorische Durchsetzen der »richtigen Linie« um jeden Preis, das Dostojewskij schildert, prägte und beschädigte auch deren Mitglieder (auch wenn es wohl nicht bis zum Mord getrieben wurde).

    Drei Frauen stechen im Roman hervor: Die reiche aristokratische und herrschsüchtige Witwe Warwara Petrowna Stawrogina, die sich im ständigen Konflikt mit dem von ihr gepäppelten und auch bewunderten Intellektuellen Werchowenskij befindet, versucht bis zuletzt die Zügel in der Hand und die moralische Ordnung in ihrer Provinzgesellschaft aufrecht zu halten. Lisa, die schöne und kluge Tochter einer Generalswitwe, wird zum Spielball der Lügen und Intrigen, an denen aktiv Stawrogin und der junge Werchowenskij beteiligt sind. Eine von den Müttern erwünschte Heirat mit Stawrogin kann nicht zustande kommen, weil dieser sich vor Jahren bereits aus einer Laune heraus mit einer gehbehinderten und psychisch kranken Frau verheiratet hatte. Darja Pawlowna Schatowa, Tochter eines Leibeigenen und Zögling von Warwara Stawrogina, ist ebenfalls nur eine Spielfigur. Ihre von Stawrogina eingefädelte Ehe mit dem mehr als doppelt so alten Werchowenskij kommt wegen der moralischen Implikationen der Intrigen und Verwicklungen nicht zustande. Eine vierte weibliche Figur kommt erst später ins Spiel, Julija Michajlowna von Lembke, die Gattin des neuen Gouverneurs und eigentliche Fädenzieherin des politisch-gesellschaftlichen Geschehens in der Provinz, die deshalb auch von Pjotr Werchowenski in sein grausames Intrigenspiel eingebaut wird.

    Der Roman ist ein schönes Beispiel für eine inkonsequente Erzählerposition. Hauptsächlich gibt es einen Ich-Erzähler, ein Freund des alten Werchowenski, der bei ihm täglich ein- und ausgeht. Er figuriert intra-diegetisch, greift also selbst hier und da in das erzählte Geschehen ein und gibt den Lesern gelegentlich auch Hinweise auf seine Erzählerrolle, indem er bei manchen Informationen explizit »vorgreift« oder sie in der Erzählordnung »verschiebt«. Es gibt aber auch einen Erzähler in der dritten Person, der in erlebter Rede allwissend darstellt, was der bei dem bestreffenden Geschehen nicht anwesende Chronist nicht miterlebt haben kann. Den Wechsel zwischen intra- und extra-diegetischem Erzähler vollzieht Dostojewskij ganz flüssig und fast unauffällig. Eine Identifikation mit irgendeiner der Romanfiguren ist schlechthin nicht möglich.

    Etwas enttäuschend sind die Schlusspassagen. Die meisten Hauptfiguren werden durch verschiedene Todesarten kurzerhand abgeräumt. Ihr Bleiben wäre angesichts der kriminellen und moralisch unerträglichen Vorfälle schlecht begründbar gewesen. Unerträglich, so deutet Dostojewskij zumindest an, sind ohnehin die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Jahre in Russland. Die Witwe Stawrogina setzt allerdings aufs Überleben, bloß nicht in ihrer Heimat, sie emigriert mit ihrer Pflegetochter in die Schweiz.

    Die Übersetzung von Swetlana Geier verwendet ein modernes Deutsch und ermöglicht – ohne »glatt« zu wirken – das Eintauchen in den Strom des dargestellten Geschehens bei gleichzeitiger Distanz.


    Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Frankfurt am Main: Fischer, 2021.

  • Zwei Perspektiven

    I

    Perspektive Sofie. Sofie macht ein Praktikum im literarischen Lektorat eines Verlages. Nach kurzer Zeit ergibt sich eine enge Verbindung zu Gunnar, dem Programmleiter der Belletristik. Sie gehen jeden Donnerstagnachmittag in ein Lokal und trinken zusammen eine Flasche Wein. Die Beziehung geht nicht über dieses Ritual hinaus, wird jedoch von den Verlagskollegen anders interpretiert. Sofie geht in ihrer Arbeit auf, wird im Lektorat eingestellt und bald verantwortlich für die Reihe Andromeda. Gunnar wird krank, er ist 65 Jahre alt, gibt seinen Posten auf. Für Sofie wird ihre Arbeit unter einer neuen Chefin schwieriger. Sie hat eine Beziehung mit einem Sachbuchkollegen. Gunnar stirbt. Sofie nimmt Kontakt zu dem Programmleiter eines anderen Verlages auf, den sie über Gunnar kennengelernt hatte.

    II

    Perspektive Gunnar. Gunnar erzählt seine ganze Lebensgeschichte. Muttersohn, Philosophiestudent, im Verlag Aufstieg vom Büroboten zum Programmleiter. Am besten, neben seiner jahrzehntelangen erfolgreichen Arbeit, gefielen ihm die Gespräche mit Sofie – die in diesem Teil von ihm als »Du« adressiert wird.

    Nette Unterhaltungslektüre, vor allem für die Praktikantengeneration.


    Therese Bohman: Andromeda. München: Europa Verlag, 2023.

  • Geliebte Erinnerung

    img

    Rao Pingru, 1922–2020, stammte aus einer Intellektuellenfamilie in Zentralchina. Nach dem Schulbesuch trat er in die Kuomintang-Armee ein und kämpfte gegen die japanischen Besatzer. An Bürgerkriegshandlungen zwischen 1945 und 1949 nahm er nicht mehr teil.

    Nach seiner Heirat mit Meitang 1948 (sie starb 2008) – eine seit langem von den Elternpaaren arrangierte Ehe – lebten beide zunächst an verschiedenen Orten in Hotels oder bei Verwandten, bis Pingru in den 1950er Jahren über seinen »Dreizehnten Onkel« einen Job in Shanghai vermittelt bekam: Buchhalter eines Krankenhauses und gleichzeitig Lektor in einem medizinischen Fachverlag. Beides – die Lebensweise und die nach wie vor funktionierenden Verwandtschaftsverhältnisse – erstaunt, weil es nicht dem Bild entspricht, das ich von der durch die Kommunistische Partei zunehmend formierte Gesellschaft hatte. Schon einige Jahre später allerdings schlug die Partei zu und erschütterte das Familienleben Pingrus: 1958 bis 1979 musste er fern von der Familie in einem Umerziehungslager arbeiten. Der Grund war hauptsächlich seine Position als Kompaniechef in der Kuomintang-Armee. Kurze Besuche in Shanghai waren ihm erlaubt, ansonsten waren Meitang und er auf Briefe (und Telegramme) angewiesen, in denen es oft um Geld und Nahrungsmittel ging.

    Briefe von Pingru an Meitang füllen den letzten – unbebilderten – Teil des Buchs.

    Das Buch enthält hunderte Tuschezeichnungen des Autors, der erst im hohen Alter, mit 87 Jahren, zu malen begann. Die Illustrationen sind ganz nah an den Text angelehnt, in vielen Passagen ähnelt die Darstellung einer Graphic Novel. Aber der Text ist kein Roman, nicht fiktional, sondern eine Autobiographie, dem Vermächtnis von Meitang gewidmet. Der Duktus der Bilder ist nur scheinbar naiv, einige Rezensenten bemerken eine Anlehnung an die Darstellungsweise von Jean-Jacques Sempé.

    Die politischen und gesellschaftlichen Verschiebungen zwischen 1922 und 2013 (da erschien das Buch in China) spielen nur eine äußerst marginale Rolle im Buch. Ich habe den Namen Mao Zedong nicht darin gesehen, nur einmal den von Deng Xiaoping. Pingru erzählt fast ausschließlich vom persönlichen Leben, von der Familie – und vom Essen.

    Rao Pingru: Unsere Geschichte. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2023.