Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Nicht Figur, eher Medium

    Mit einiger Verwunderung hat die Kritik den neuen Roman von Zadie Smith aufgenommen und zu etikettieren versucht. Ein »historischer Roman«, gar ein »viktorianischer« soll es sein. Der auf tatsächlichen Ereignissen und Figuren basierende Roman handelt in der Tat in der viktorianischen Ära, im wesentlichen Ende der 1830er bis Anfang der 1870er Jahre. Insofern schon historisch, und die Autorin hat ausgiebig Quellen studiert, um große Teile des Stoffs in der Realgeschichte zu verankern. Auch sprachlich bleibt sie ganz nah bei ihren Protagonisten und leistet sich keine Modernismen. »Viktorianisch« kann der Roman allerdings nicht genannt werden, denn weder Dickens, Thackeray, Disraeli oder Eliot hätten eine ähnliche Thematik gewählt wie Smith.

    Es gibt im Buch drei ineinander verschachtelte Erzählstränge, die zudem nicht chronologisch verlaufen, sondern häufig die Zeiten wechseln. Die früher angesiedelten Szenen klären schrittweise über die Verhältnisse auf der obersten Zeitebene auf.

    Die Hauptfigur und sozusagen das Medium des Romans ist Eliza Touchet. Sie hat als handelnde Person, als Beobachterin und als Zuhörerin Teil an allen drei Handlungssträngen. Sie ist die Cousine des Schriftstellers William Ainsworth, der 41 heute vergessene Romane verfasste. Mit ihm hatte sie auch eine Liebesbeziehung, ebenso mit seiner früh gestorbenen -Frau. Mrs. Touchet – wie sie durchgängig im Roman genannt wird – war selbst verheiratet, ihr Mann verließ sie, nahm ihr gemeinsames Kind. Beide wurden Opfer einer Epidemie. Eine kleine Erbschaft sichert ihr das Überleben, aber statt einer selbstständigen Existenz zieht sie es vor, bei ihrem Cousin zu leben und die Rolle der Haushälterin zu spielen. Nebenbei ist sie auch Leserin der schwallartig produzierten Romane von William Harrison Ainsworth (einige davon lassen sich bei archive.org finden), leider nicht Lektorin, da der Autor kritikresistent ist.

    Ein zweiter Plot, es ist ein echter, taucht in der Mitte des Buchs auf. Es handelt sich um den Fall Roger Tichbourne – oder Arthor Orton. Der junge Adlige Roger verschwand auf den Weltmeeren, und Jahrzehnte später beanspruchte ein Dorfmetzger, aus Australien nach England zurückkehrend, dieser Tichbourne zu sein. Der Fall und der sich lang hinziehende Prozess wird im Buch, gesehen durch die Augen von Mrs. Touchet, ausführlich abgehandelt.

    Der junge Roger Tichbourne und sein Identitätsräuber Arthur Orton

    An ihn hängt sich der dritte Erzählstrang an. Der falsche Tichbourne wird von einem aus Jamaika stammenden schwarzen Bediensteten und dessen Sohn begleitet, Andrew und Henry Bogle. Mrs. Touchet fühlt sich vom älteren Bogle auf eine unerklärte Art angezogen und kommt schließlich mit ihm ins Gespräch. Dessen Inhalt machen dann viele Kapitel des Buchs aus. In ihnen wird die Familiengeschichte Bogles seit Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt, die Geschichte der Sklavenarbeit auf Jamaika und der halbherzigen abolitionistischen Bemühungen in England. Bogle arbeitete für einen Onkel des verschwundenen Tichbourne auf Jamaika, konnte sich später freikaufen und geriet irgendwie in Kontakt mit dem Identitätsräuber Orton, dessen Version er vollständig vor Gericht vertrat.

    Das alles ist lesenswert und erweckt Empathie, ist aber nicht wirklich zwingend konstruiert. Viele Details schweben in loser Verbindung im Erzählstrom dahin, der nur zeitweilig ein wenig Spannung durch die Unklarheit des Gerichtsverfahrens erhält. Nicht einmal die Figur von Mrs. Touchet, von der soviel die Rede ist und deren Perspektive die Darstellung dominiert, wird so dicht oder nah gezeichnet, dass sie emotionale Regungen bei der Leserschaft hervorzurufen vermag. Sie bleibt durchgängig das Medium vielfältiger, darunter vieler unwichtiger und für den Erzählfluss verzichtbarer Ereignisse. Ist die Übertragung abgeschlossen, kann das Medium vergessen werden; so ist es auch hier.

    Für mich interessant sind die häufig eingestreuten Elemente der englischen politischen und Kulturgeschichte. Das Massaker von Peterloo 1819, die formelle Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire 1833 und die Auseinandersetzungen um die Korngesetze um 1840 werden oft erwähnt. Einige bedeutende Charaktere der viktorianischen Kultur treten im Roman als Nebenfiguren auf: Charles Dickens, George Cruikshank, William Thackeray. Die Zeitschrift Bentley’s Miscellany, die erst von Charles Dickens, dann von William Ainsworth herausgegeben wurde, lohnt gewiss einmal eine Durchsicht. Zadie Smith vergisst auch den linken Flügel nicht, in Gestalt von John De Morgan, Agitator der von Karl Marx gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation in Irland, der später in den USA erfolgreicher Autor von Abenteuer-Heftchen-Romanen wurde.

    Die Übersetzung ist erfreulich, sprachlich vielleicht etwas geglätteter als das von mir allerdings nur kurz konsultierte Original. Einige Slang-Ausdrücke und Gedichte bleiben unübersetzt und sind auch so verständlich. An einer Stelle leistet sich Tanja Handels einen kleinen Scherz mit ihren Leserinnen und Lesern, indem sie dieses Zeugma einstreut:

    Mrs. Touchet hielt eine Droschke an und der amüsierten Miene des Kutschers stand. (S. 504)

    Übrigens: Eine wichtige Quelle zu Ainsworths Werken, die häufig im Buch genannt werden, ist dieses zweibändige Werk (leicht bei archive.org zu finden):


    Zadie Smith: Betrug. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023.

    Zum Fall Tichbourne: Süddeutsche Zeitung 2022

  • Werk und Werken

    Von Carlos Spoerhase & Steffen Martus: Geistesarbeit war ich nicht übermäßig angetan. Mir gefällt die »praxeologische« Sichtweise der Autoren nicht. Vielmehr: nicht die Sichtweise, aber deren ausführliche Darlegung, die weitgehend auf die Nennung und Aufzählung von Trivialitäten hinausläuft. Bachelard und Latour haben für verschiedene Naturwissenschaften gezeigt, welchen Einfluss das Labor, die Werkzeuge, die experimentellen Prozeduren und institutionellen Rituale auf die wissenschaftlichen Erkenntnis haben. Eine vergleichbare Sicht wird nun auf die literaturwissenschaftliche Praxis geworfen, um die Hervorbringung ihrer Resultate verständlich zu machen. Das finde ich nur in Maßen interessant. Spoerhase & Martus haben daraus ein geradezu unmäßiges Buch gemacht und werfen auf 600 Seiten Blicke auf die Entstehungsprozesse von Werken Peter Szondis und Friedrich Sengles. Da es im Buch einige Referenzen auf ein früher erschienenes gibt, an denen Spoerhase ebenfalls beteiligt war, habe ich es mir angesehen.

    Das Werk enthält 19 Beiträge, die sich um die Fragestellung gruppieren: »Welche paratextuellen, institutionellen, autorintentionalen, formalen und inhaltlichen Kriterien muss ein Text erfüllen, damit ihm ein Werkstatus zugeschrieben wird?« (17) Werk kann dabei Opus sein (Einzelwerk), Werkausgabe (Œuvre) oder auch Gesamtwerk (Patrimonium). Die verlegerische Werkkonstitution, so legen die Herausgeber in ihrer erhellenden Einleitung dar, hat einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf literaturwissenschaftliche Lektürepraktiken und Interpretationsverfahren – und selbstverständlich auch auf den Markt oder den Kanon. Schön gesagt: »Das ›Werk‹ erweist sich … als ein historisch etabliertes Modell, die sozialen Praxiszusammenhänge einer ›vergesellschafteten‹ Textualität zu arrangieren und zu regulieren« (19). Andererseits hängt am Werkbegriff die Gefahr der Idealisierung der Autorschaft und ihrer Hervorbringungen. Der Band setzt an der kritischen Einsicht an, dass das »biblionome Zeitalter«, von dem Ivan Illich 1991 sprach (Im Weinberg der Texte), allmählich zu Ende geht und daher auch die Buchform der Werkkonzeption an Überzeugungskraft verliert. Andererseits sollten phantasielose Experimente wie Code Poetry, Hypertext-Literatur, Interactive Fiction, Handy-Romane, Instapoetry und Twitteratur nicht so wichtig gemacht werden, wie die Herausgeber es tun. Behauptungen wie die, dass sich die Grenzen von privatem und öffentlichem Schreiben auflösten, sind haltlos. Es mag ja sein, dass ein Großteil aller Texte netzöffentlich erscheint (6), aber diese Texte bilden eher eine neue Zwischen-Schicht zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre als deren Grenzen aufzulösen. Alles Digitale = öffentlich? Auch die »performative Wende«, die aus den Interaktionsmöglichkeiten in digitalen Medien abgeleitet wird, scheint mir eine bodenlose Übertreibung zu sein.

    Die Erzeugung unikaler Texte ist keineswegs erst durch die Print-on-demand-Technik gegeben, wie die Herausgeber meinen, sie wurde schon früher praktiziert, zum Beispiel vom Verlag Klaus Ramm, der 1984 x verschiedene Exemplare von Hartmut Geerkens holunder herstellte (ich habe zwei im Regal).

    Den Beitrag zu paratextuellen Aspekten (Alexander Starre) habe ich gern gelesen, auch den von Andrea Albrecht über die Werkkonzeptionen bei Georg Lukács.

    Ganz und gar nicht befriedigend ist der abschließende Beitrag von Annette Gilbert über die »Zukünfte« des Werks. Es ist einer der Versuche, Epochengrenzen mit irgendeinem einem Vokabular zu beschreiben, in dem auf jeden Fall ein »post-« vorkommt. Wie kann also »Bedeutungserzeugung« in »Postproduktionen« geschehen? Was soll das überhaupt sein? Bedeutungen erzeugen doch wohl die Rezipienten, nicht die Produzenten, ob Post- oder nicht. Gilbert stützt sich auf Ansätze, die auf den Reproduktions-Charakter (Remake, Kopie, Weiterverarbeitung von Vorhandenem) von Werken abheben und ein angeblich neues Konzept von Originalität und Kreativität belegen (496). Die seit den 1940er Jahren in verschiedenen künstlerischen und literarischen Gattungen entstandenen experimentellen Formen – vom Cut Up über Conceptual Writing bis zur Aleatorik – bilden einen reichhaltigen Fundus, dem Gilberts »Post« eigentlich nichts Neues hinzufügen kann. Was ist »Kuratieren« anderes als Collagieren? Kennen wir »infinites Schreiben« nicht seit den spiritistischen Sitzungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (oder seit Gertrude Stein)? Aufgescheucht durch digitale Techniken und die durch sie beeinflussten Ideen und Hervorbringungen sollten sich Literaturwissenschaftler_innen vielleicht ein paar Jahre Zeit lassen, bevor sie Erscheinungen für grundstürzend neu erklären (Twitteratur u. ä.), die schon nach kurzer Zeit ihre Banalität offenbaren und zu Recht vergessen werden. »Das literarische Leben der Gegenwart« (543) bestimmen sie jedenfalls nicht.


    Lutz Danneberg; Annette Gilbert; Carlos Spoerhase (Hrsg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2019.

    Carlos Spoerhase; Steffen Martus: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2022.

  • Brüchige Zeitschleife

    Tara und Thomas Selter sind Antiquare in Clairon-sous-Bois. Auf einer Einkaufsreise zu einer Antiquariatsmesse in Paris gerät Tara in eine Zeitschleife. Die meisten Gegenstände, die sie mit sich führt und berührt hat – auch eingekaufte Bücher – bleiben mit ihr auf der Reise durch immer wieder den 18. November. Andere verschwinden wieder, wie eine als Geschenk gekaufte historische Münze, eine römische Sesterz. Kein menschlicher Kontakt erinnert sich daran, irgendein Detail des 18. November schon einmal erlebt zu haben, auch nicht ihr Mann Thomas.

    Der erste Teil eines siebenteiligen Romanprojekts erinnert die Rezensenten meist an den Film … und täglich grüßt das Murmeltier. Es ist jedoch in vieler Hinsicht differenzierter. Die Ich-Erzählerin Tara beginnt ihre Aufzeichnungen an dem Tag, an dem sich für sie der 18. November zum 121. Mal wiederholt. Bis zum 366. Tag, also dem ersten Jahrestag der Zeitschleife, beobachtet sie jedes Detail ihrer Umgebungen. Allerdings wechselt sie dabei die Perspektiven. Sie bleibt nur einige Tage in Paris, kehrt dann in ihr Haus in Clairon-sous-Bois zurück. Täglich muss sie immer wieder ihren Mann Thomas von ihrem Erleben berichten und ihn überzeugen, dass die Zeit, die Welt aus den Fugen geraten ist. Dann gibt sie für einige Wochen diese fruchtlosen Versuche auf, sich gemeinsam wieder zu synchronisieren. Sie quartiert sich von Thomas unbemerkt im Gästezimmer des gemeinsamen Hauses ein, beobachtet und belauscht ihren Mann, das Haus und die Umgebung. Dann wieder gibt es eine Phase, in der sie mit ihrem Mann an den Unstimmigkeiten der Zeitschleife herumrätselt und sie zu ergründen versucht. An sich selbst bemerkt sie »Launen«, die nicht jeden Tag auftreten. Das Bleiben und Verschwinden mancher Gegenstände scheint keinem System zu gehorchen, und auch der Rücksprung an den Tagesbeginn erfolgt nicht zur selben Uhrzeit.

    Nach vielen weiteren Tagen entwickelt Tara in manchen Momenten das Gefühl, in einem anderen Monat als im November zu sein; diese Momente sind allerdings sehr flüchtig. Sie fühlen sich an wie kleine Brüche im Zeitgefüge, wie eine Zeit, die unter dem von ihr erlebten 18. November sich weiterbewegt.

    Nach einem knappen Jahr, als sie wieder keinen Sinn im Aufenthalt im gemeinsamen Haus und im täglichen Gespräch mit Thomas sieht – das immer mit einer Begründung für ihr unerwartetes Auftauchen, den Abbruch ihres Paris-Besuchs beginnen muss – zieht sie in ein Haus, für das ihr ein Makler die Schlüssel zur Besichtigung überlassen hat. Sie trifft einmal ihren Mann, nimmt ihn mit in das Haus und versucht – erfolglos –, ihn zum Jahrestag ihres Zeitbruchs zu einer Reise mit ihr nach Paris zu überreden. Sie fährt dann allein – und erlebt mit einem alten Freund, Antiquar und Münzhändler, etwas Seltsames. Am »originalen« 18. November verbrachte sie einige Stunden mit ihm und seiner Freundin, ohne dass er über das nunmehr wichtigste Tagesereignis berichtet hätte, nämlich die erfolgreiche Finanzierung eines Wohnungskaufs im selben Haus wie sein Ladengeschäft.

    Teil I endet am Tag #366 ohne Re-Entry in die Normalzeit.

    Kann man lesen, auf Bahnfahrten zum Beispiel. Werde mit Teil II weitermachen.


    Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2023.

  • Kundiges Geplauder

    Kurz gesagt: Es geht im Buch von Irene Vallejo um den Beginn des Schriftzeitalters. Sie erzählt vom titelgebenden Papyrus und seiner Herstellung, auch von den anderen Beschreibstoffen. Die Verbreitung der Schrift, ihre Speicherung in Form von Rollen und Codices, deren Verbreitung und ihre Agenten und schließlich die Speicher, zuvörderst natürlich die Bibliothek von Alexandria, sind Gegenstand ihrer kundigen Darstellung. Dabei gibt es nicht nur – bekanntes und unbekanntes – Anekdotisches, sondern auch viele Abschweifungen, vom Buch auf Bücherinhalte und deren Geschichte.

    Das meiste wussten wir schon: Unmetrische Prosa verbreitete sich schriftlich, weil es nun nicht mehr nötig war, zum erinnerten Text den Rhythmus zu stampfen. Über die Erfindung des Vokalalphabets war bereits viel bei Kittler zu lesen. Die Entstehung der Philologie als Sortiermaschine für die vielen Homer-Varianten in den Dubletten der Bibliothek von Alexandria ist eine nette Vermutung. Kallimachos, der Bibliothekar und Registrar von Alexandria, wird bei Dennis Duncan (Index) gewürdigt.

    Ich habe durchaus mit Vergnügen weitergelesen, über Platons Poetenpolizei, die Neusprech-Ausgaben von Klassikern bereits in Orwells 1984, die Gründe des Verbots von Büchern und von Angriffen auf Buchhandlungen. Autoren wurden in der Antike nicht bezahlt, aber Kopisten. Brillen wurden meist erst für Lesende nötig.

    Dies und vieles mehr findet sich im Buch. Empfehlenswert für alle, die nicht schon den ganzen Weg von Ong über Eisenstein, Giesecke, Kittler usw. gegangen sind und gern in die Entstehung der Schriftwelt eingeführt werden wollen.


    Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern. Zürich: Diogenes, 2022.

  • Register und Registrare

    Es ist kaum zu glauben: Diese Buch über Register und Registrare ist spannender und unterhaltsamer als so mancher Gegenwartsroman, von den literaturwissenschaftlichen Bemühungen der aktuellen Generationen gar nicht zu reden. Seine englische und auch seine deutsche Fassung sind zu Recht in Fachorganen und Feuilletons mit Lob überhäuft worden. Auch ich möchte hier keine Einwände vorbringen, sondern einige Facetten des Buchs benennen, die mir gefallen haben.

    Dennis Duncan, der Autor, ist Linguist und arbeitet am University College in London. Schon in dem von ihm mitherausgegebenen früheren Buch, Book Parts (2019), das an Genettes Paratexte und Morettis Arbeiten anschließt, gab er eine Art kurzgefasster Vorschau zum Thema. Nun aber schöpft er aus dem Vollen und gibt einen umfassenden Einblick in die Entstehungsgeschichte der Register und den Umgang mit ihnen. Indexe sind durch die Digitalisierung alles Schriftlichen keineswegs unwichtiger geworden. Gerade Suchmaschinen, deren Gebrauch oft an die Stelle des Wälzens von Nachschlagewerken, Bibliographien und Registern treten, benötigen zwingend einen Index. Auch die erste Website von Tim Berners-Lee war – ein Sachregister.

    Tim Berner-Lees erster Browser auf einem NeXT-Computer

    Auf dem Weg zum meist hinten angeordneten Buchabschnitt hat der Index begrifflich und materiell einige Entwicklungsschritte durchlaufen. Zum Beispiel gab es in griechisch-römischer Zeit Etiketten an Schriftrollen in Regalen, sogenannte Syllabi, kurze Angaben zum Inhalt. Über die Ordnung der Rollen ist wenig bekannt. Aber ein noch heute genutztes Ordnungsprinzip stand seit der Einführung des Vokalalphabets in Griechenland schon bereit. Die Ilias und die Odyssee wurden später, nämlich von Bibliothekaren der Bibliothek von Alexandria, in je 24 Kapitel aufgeteilt. Das ist die Zahl der Buchstaben des griechischen Alphabets, die auch als Ziffern benutzt wurden.

    Duncan betont, dass die Ordnung eines Index immer leser-orientiert ist und nicht text-orientiert. Seine eigentliche Entwicklung als Referenzsystem setzte ein, als Codices (zusammengefügte Einzelseiten) sich statt Rollen verbreiteten. Seiten sind besser markierbar und zählbar als irgendwelche Abschnitte auf einer Rolle. Allerdings dauerte es geraume Zeit, viele Jahrhunderte, bis sich Seitenzahlen als Standardmarkierung durchsetzten. Die Seitenzahl gehört nicht zum Text und bezieht sich streng genommen auch gar nicht auf ihn, sondern auf das Buch als Gesamtheit.

    Das Register wurde sozusagen zweimal erfunden, einmal als Konkordanz, zum anderen als Index. Eine Konkordanz listet im Prinzip jedes vorkommende Wort auf, während ein Index eine sachlich begründbare Auswahl von Referenzpunkten sammelt. Suchmaschinen und viele digitale Suchverfahren basieren zunächst auf Konkordanzen, also schier endlosen Wortlisten, in denen die Häufigkeit des Vorkommens einzelner Wörter gemessen werden kann. Indexe lassen sich nach der sie steuernden sachlichen Durchdringung unterscheiden. Es gibt Wortregister und Namensregister, die auf einfachen Übereinstimmungen basieren, es gibt aber auch Sachregister, die auch den Kontext einbeziehen und beispielsweise »Nationalsozialismus« notieren, wo eine Person mit positiver oder negativer Verbindung zu ihm vorkommt. Indexe wurden bereits für Handschriften entwickelt, nicht erst für gedruckte Literatur. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts legte Robert Grosseteste, ein anglo-normannischer Bischof, für seine Aristoteles-Übersetzung ein Sachregister an. Parallel zu ihm entwickelte Hugh of St. Cher das Verfahren von Wortindexen.

    Es gab auch schon früh Kritik an Indexen. Galileo murrte, dass Gelehrte sich nun nicht mehr mit Schiffen oder Kanonen befassten, um ihre Eigenschaften zu beschreiben, sondern sich in ihre Studierstuben zurückzogen, um dort einen Index oder Inhaltsverzeichnisse durchzugehen, um herauszufinden, ob bereits Aristoteles etwas Schlaues über den Gegenstand geschrieben hat.

    Indexe reflektieren die Veränderungen des Leseverhaltens und der Erwartungen der lesenden Gemeinschaften. Sie sind keineswegs durch digitale Buchfassungen und Texte überflüssig geworden. Ein durchdachtes Sachregister hilft Lesern, den Inhalt eines Textes und seine Schwerpunkte zu verstehen. Eine Volltextsuche setzt voraus, dass eine Ahnung vom Inhalt und möglichen vorkommenden Begriffen besteht. Das ist jedoch weder bei Rezipienten von Studienliteratur noch von Forschungsergebnissen gegeben. Auch die bloße Auflistung von Namen und Begriffen allein kann nicht befriedigen. Daher sind auch automatisierte Erstellungsverfahren abzulehnen. Software kann bei der Markierung von Referenzen im Text helfen, aber nicht bei der Auswahl, Formulierung und eventuellen Hierarchisierung der Schlagworte. Fach- und sachkundige Indexer (diesen Berufsstand gibt es, auch eine internationale Vereinigung) ziehen eine neue Ebene in das Werk ein, die Lesern vielfältige Verständnismöglichkeiten anbietet. Übrigens hat auch Duncans Buch selbst einen Index. Dieser wurde nicht von ihm selbst erstellt, sondern von einer professionellen Indexerin, Paula Clarke Bain.

    Mit dem Sortierprinzip, also dem Alphabet, wurde häufig gespielt. Marcel Duchamp inspirierte 1917 eine New Yorker Ausstellung, in der 400 Bilder in der alphabetischen Reihenfolge der Künstlernamen präsentiert wurden. Das Prinzip musste allerdings erst »gelernt« werden. Ein 1604 erschienenes Lexikon, Table Alphabeticall … (der Titel läuft über mehrere Zeilen), enthält eine genaue Gebrauchsanweisung der alphabetischen Ordnung. Allerdings gab es schon bei den Assyrern Tontafeln mit alphabetischen Listen, und in der Bibel gibt es Akrostycha, bei denen die Anfangsbuchstaben von Versen einen alphabetische Reihenfolge aufweisen – zumindest in der hebräischen Fassung (zum Beispiel die Klagelieder und einige Psalmen). Andere frühe Sortierprinzipien wurden in antiken Bibliotheken angewendet. So waren die Schriftrollen in Alexandria nach Genres und dann alphabetisch nach Autoren sortiert. Cicero ließ seine riesige Privatbibliothek etikettieren und ebenfalls sortieren. Plinius ordnet in seiner Naturgeschichte die wichtigsten Edelsteine nach Farben, alle anderen alphabetisch.

    Indexe können auch Werkzeuge in politischen und anderen Auseinandersetzungen sein, Indexer haben eine gewisse Macht. Was, wenn ein Tory ein von einem Whig-Anhänger verfasstes Buch über die politische Geschichte Englands mit einem Index versieht? Zumindest können Indexer die Gewichte eines Textes verändern. Darüber hinaus gibt es zugespitzte Formen: Rogue Index (eine völlig parteiliche und polemische Form) und Mock Index (in dem sich versteckte Scherze befinden). William King war Anfang des 18. Jahrhunderts der König der Rogue Indexer. Er versah einmal eine unautorisierte Auflage eines Buchs mit einem satirischen Index, der die Dumpfheit des Autors vorführen wollte – und hatte Erfolg, er verhinderte die Wahl eines Speakers im Unterhaus. John Gay, der Autor der Beggars’ Opera, veröffentlichte 1716 ein Poem »Trivia, Or the Art of Walking through the Streets of London«, das einen Index enthielt, mit Einträgen wie »Cheese not lov’d by the Author« und »Nose, its Use«. Lewis Carrolls Roman Sylvie and Bruno (1889) enthält einen Index mit ähnlichen Scherzen.

    Immer mal wieder kommen literarische Autoren auf die Idee, mit einem Index zu spielen. Beispiele: J. G. Ballard: The Index (eine SF-Story, die nichts als ein Index ist), Walter Abish: Alphabetical Africa, Andreas Okopenko: Lexikon-Roman, Oswald Wiener: Die Eroberung von Mitteleuropa, Vladimir Nabokov: Pale Fire (ein Roman, der sich als kritische Ausgabe eines Textes gibt). Hartmut Geerkens Buch »kant« hat einen äußerst komplexen und geradezu heimtückischen 90 Seiten langen Index.

    Henry Wheatley, ein großer viktorianischer Indexer – What is an Index? London: Index Society, 1878 –, fasst das Wissen seiner Zeit zusammen, in der auffallend viel mit Indexen experimentiert wird. Beispielsweise gab es 1879 die Wiederauflage eines 1775 erschienenen Buchs von Henry Mackenzie, The Man of Feeling, in dem viele Tränen vergossen werden. Der Herausgeber stellt nun dem Buch einen »Index of Tears« voran, wohl weil er sich an der Empfindsamkeit des Autors störte. Allerdings liefert dieser Index keine Aufklärung darüber, warum soviel geweint wird. Dr. Johnson forderte Mitte des 18. Jahrhunderts für die von Samuel Richardson erweiterte Ausgabe des Briefromans Clarissa (7 Bände) ein Sachregister, das tatsächlich erschien. Es ist in Kategorien gegliedert und scheint eine Art Quintessenz des Romans liefern zu wollen. Unter »Duelling«: »An innocent man ought not to run an equal risk with a guilty one«. Eine Ausgabe dieses Index erschien sogar ohne Seitenreferenzen, da unterschiedlich paginierte Ausgaben des Romans auf dem Markt waren.

    »The index as personal history«: Sherlock Holmes indexierte seine Fälle und Einsichten unter diesem Motto. Auch die Idee des Universalindex sämtlicher Wissensgebiete kursierte im viktorianischen England. Dabei tauchte auch erstmalig die Idee des »community tagging« auf, also der Errichtung und Erweiterung eines Index von allen Mitgliedern (der damaligen Index Society).

    Einer gigantischen Aufgabe verschrieb sich Guy Montgomery, ein 1951 gestorbener Literaturwissenschaftler, der bereits mit Computerunterstützung auf 250.000 Karteikarten eine Konkordanz der lyrischen Werke von John Dryden zusammenstellte und in 63 Schuhkartons hinterließ. Seine Kollegin und Nachfolgerin Josephine Miles konvertierte die Karteikarten in Lochkarten und publizierte den Index schließlich. Dazu: Guy Montgomery/Lester A. Hubbard (Hrsg.): Concordance to the Poetical Works of John Dryden. Assisted by Mary Jackman and Helen S. Agoa. Preface by Josephine Miles, Berkeley 1957.

    Und auch: Rachel Sagner Buurma/Laura Heffernan: Search and Replace: Josephine Miles and the Origins of Distant Reading. In: Modernism/modernity 1/2018. Mario Wimmer, Josephine Miles (1911–1985): Doing Digital Humanism With and Without Machines, in: History of Humanities 2/2019, S. 329–334.

    Duncans Buch ist lehrreich, anekdotenreich und verdient eine Nachahmung, in der deutsche Texte fokussiert werden und auch digitale Entwicklungen stärker und kundiger berücksichtigt werden als es Duncan möglich war. Indexe werden auch in der digitalen Welt weiterlebena – auch wenn Kinder und Jugendliche von heute spontan nicht mehr imstande sind, ein Branchentelefonbuch zu benutzen und seine Gliederung und Sortierung zu verstehen. Ach – und Kursbücher!


    Dennis Duncan: Index, A History of the. A Bookish Adventure. London: Penguin, 2021.