Mit einiger Verwunderung hat die Kritik den neuen Roman von Zadie Smith aufgenommen und zu etikettieren versucht. Ein »historischer Roman«, gar ein »viktorianischer« soll es sein. Der auf tatsächlichen Ereignissen und Figuren basierende Roman handelt in der Tat in der viktorianischen Ära, im wesentlichen Ende der 1830er bis Anfang der 1870er Jahre. Insofern schon historisch, und die Autorin hat ausgiebig Quellen studiert, um große Teile des Stoffs in der Realgeschichte zu verankern. Auch sprachlich bleibt sie ganz nah bei ihren Protagonisten und leistet sich keine Modernismen. »Viktorianisch« kann der Roman allerdings nicht genannt werden, denn weder Dickens, Thackeray, Disraeli oder Eliot hätten eine ähnliche Thematik gewählt wie Smith.
Es gibt im Buch drei ineinander verschachtelte Erzählstränge, die zudem nicht chronologisch verlaufen, sondern häufig die Zeiten wechseln. Die früher angesiedelten Szenen klären schrittweise über die Verhältnisse auf der obersten Zeitebene auf.
Die Hauptfigur und sozusagen das Medium des Romans ist Eliza Touchet. Sie hat als handelnde Person, als Beobachterin und als Zuhörerin Teil an allen drei Handlungssträngen. Sie ist die Cousine des Schriftstellers William Ainsworth, der 41 heute vergessene Romane verfasste. Mit ihm hatte sie auch eine Liebesbeziehung, ebenso mit seiner früh gestorbenen -Frau. Mrs. Touchet – wie sie durchgängig im Roman genannt wird – war selbst verheiratet, ihr Mann verließ sie, nahm ihr gemeinsames Kind. Beide wurden Opfer einer Epidemie. Eine kleine Erbschaft sichert ihr das Überleben, aber statt einer selbstständigen Existenz zieht sie es vor, bei ihrem Cousin zu leben und die Rolle der Haushälterin zu spielen. Nebenbei ist sie auch Leserin der schwallartig produzierten Romane von William Harrison Ainsworth (einige davon lassen sich bei archive.org finden), leider nicht Lektorin, da der Autor kritikresistent ist.
Ein zweiter Plot, es ist ein echter, taucht in der Mitte des Buchs auf. Es handelt sich um den Fall Roger Tichbourne – oder Arthor Orton. Der junge Adlige Roger verschwand auf den Weltmeeren, und Jahrzehnte später beanspruchte ein Dorfmetzger, aus Australien nach England zurückkehrend, dieser Tichbourne zu sein. Der Fall und der sich lang hinziehende Prozess wird im Buch, gesehen durch die Augen von Mrs. Touchet, ausführlich abgehandelt.
Der junge Roger Tichbourne und sein Identitätsräuber Arthur Orton
An ihn hängt sich der dritte Erzählstrang an. Der falsche Tichbourne wird von einem aus Jamaika stammenden schwarzen Bediensteten und dessen Sohn begleitet, Andrew und Henry Bogle. Mrs. Touchet fühlt sich vom älteren Bogle auf eine unerklärte Art angezogen und kommt schließlich mit ihm ins Gespräch. Dessen Inhalt machen dann viele Kapitel des Buchs aus. In ihnen wird die Familiengeschichte Bogles seit Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt, die Geschichte der Sklavenarbeit auf Jamaika und der halbherzigen abolitionistischen Bemühungen in England. Bogle arbeitete für einen Onkel des verschwundenen Tichbourne auf Jamaika, konnte sich später freikaufen und geriet irgendwie in Kontakt mit dem Identitätsräuber Orton, dessen Version er vollständig vor Gericht vertrat.
Das alles ist lesenswert und erweckt Empathie, ist aber nicht wirklich zwingend konstruiert. Viele Details schweben in loser Verbindung im Erzählstrom dahin, der nur zeitweilig ein wenig Spannung durch die Unklarheit des Gerichtsverfahrens erhält. Nicht einmal die Figur von Mrs. Touchet, von der soviel die Rede ist und deren Perspektive die Darstellung dominiert, wird so dicht oder nah gezeichnet, dass sie emotionale Regungen bei der Leserschaft hervorzurufen vermag. Sie bleibt durchgängig das Medium vielfältiger, darunter vieler unwichtiger und für den Erzählfluss verzichtbarer Ereignisse. Ist die Übertragung abgeschlossen, kann das Medium vergessen werden; so ist es auch hier.
Für mich interessant sind die häufig eingestreuten Elemente der englischen politischen und Kulturgeschichte. Das Massaker von Peterloo 1819, die formelle Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire 1833 und die Auseinandersetzungen um die Korngesetze um 1840 werden oft erwähnt. Einige bedeutende Charaktere der viktorianischen Kultur treten im Roman als Nebenfiguren auf: Charles Dickens, George Cruikshank, William Thackeray. Die Zeitschrift Bentley’s Miscellany, die erst von Charles Dickens, dann von William Ainsworth herausgegeben wurde, lohnt gewiss einmal eine Durchsicht. Zadie Smith vergisst auch den linken Flügel nicht, in Gestalt von John De Morgan, Agitator der von Karl Marx gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation in Irland, der später in den USA erfolgreicher Autor von Abenteuer-Heftchen-Romanen wurde.
Die Übersetzung ist erfreulich, sprachlich vielleicht etwas geglätteter als das von mir allerdings nur kurz konsultierte Original. Einige Slang-Ausdrücke und Gedichte bleiben unübersetzt und sind auch so verständlich. An einer Stelle leistet sich Tanja Handels einen kleinen Scherz mit ihren Leserinnen und Lesern, indem sie dieses Zeugma einstreut:
Mrs. Touchet hielt eine Droschke an und der amüsierten Miene des Kutschers stand. (S. 504)
Übrigens: Eine wichtige Quelle zu Ainsworths Werken, die häufig im Buch genannt werden, ist dieses zweibändige Werk (leicht bei archive.org zu finden):
Zadie Smith: Betrug. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023.
Zum Fall Tichbourne: Süddeutsche Zeitung 2022