Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Weggelesen (1)

    Maryam Aras: Dinosaurierkind

    Zwei Generationen iranischer Emigranten, die Tochter entdeckt ihren Vater in einem Film über die Proteste gegen den Schah-Besuch 1967. Der Vater lebt seit 1964 in Deutschland, er war ein Anhänger des Ministerpräsidenten Mossadegh, der 1953 aus dem Amt geputscht wurde. Vom britischen und amerikanischen Geheimdienst organisiert, brachte das iranische Militär den Schah an die Macht. Die Folge war die komplette quotenmäßige Kontrolle der iranischen Ölförderung durch amerikanische und europäische Konzerne. Mit ständigen Zeitsprüngen erzählt die Autorin das Leben ihres Vaters in Tehran und in Köln, über den langen Web seiner Einbürgerung und sein Studium in Deutschland – immer wieder gemischt mit Szenen aus dem Iran selbst, die Situation nach der islamischen Revolution der Ajatollahs 1979 und die Opposition auch gegen dieses neue Regime. Verwoben mit all diesen Geschichten und Berichten ist die eigene Biographie der 1982 in Deutschland geborenen Autorin, ihre Suche nach ihren familiären und kulturellen Wurzeln. Der Vater bringt an vielen Stellen des Buchs (eingerückt, kursiv) Anmerkungen und Korrekturen ein. Eine gelungene Montage, auch sehr informativ, und dem Vater, einem der »Dinosaurier« der ersten Generation der Iran-Emigration, kommt man beim Lesen sehr nahe.


    Maryam Aras: Dinosaurierkind. Berlin: Claassen, 2025.

  • Paranoia (2)

    Europa erlebe im Augenblick geschichtlich betrachtet fast so etwas wie Glück.


    https://www.deutschlandfunk.de/sloterdijk-sieht-europa-auf-dem-weg-zu-wehrhaftigkeit-100.html

  • Paranoia (1)

    Richard Hofstadter

    Viele der heutigen politischen Weltbeschreibungen deutscher Politiker und Journalisten erinnern an die Weltsicht der amerikanischen Rechten, die 1963 auf beeindruckende Weise von Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, beschrieben wurde. Auch Franz Neumann, Angst und Politik 1954 sowie Leo Löwenthal, Falsche Propheten 1949 hatten dazu schon erhellende Analysen gemacht. Es ist erstaunlich, dass sich so wenig an den Denk- und Argumentationsmodellen der US-Rechtsextremen geändert hat. Trump benutzt Textbausteine, die teilweise wortwörtlich schon in den 1950er Jahren verwendet wurden. Die genannten sozialpsychologischen Analysen legen auch Erklärungen nahe, warum das Verschwörungsdenken in den USA immer wieder mehrheitsfähig war und ist.

    Warum der Begriff Paranoia?

    I call it the paranoid style simply because no other word adequately evokes the qualities of heated exaggeration, suspiciousness, and conspiratorial fantasy that I have in mind (…) the idea of the paranoid style would have little contemporary relevance or historical value if it were applied only to people with profoundly disturbed minds. It is the use of paranoid modes of expression by more or less normal people that makes the phenomenon significant.

    Paranoide Äußerungen und Strategien in der Politik imaginieren systematische feindselige und verschwörerische Angriffe auf die Nation, die Kultur, die Lebensweise aller Menschen. Ein Beispiel Hofstadters: Nach der Ermordung John F. Kennedys gab es eine Gesetzesintiative zur Einschränkung des Waffenverkaufs. Dagegen erhob sich aggressiver Protest. Das sei der Versuch einer subversiven Macht, die amerikanische Nation einer sozialistischen Herrschaft zu unterwerfen, Chaos zu erzeugen und ihren Feinden zur Machtergreifung zu verhelfen. Ähnliche Reaktionen gab und gibt es auf die Fluoridierung des Trinkwasser.

    Hofstadter sieht solche paranoiden Tendenzen nicht nur in den USA, sondern weltweit, und verweist auch auf historische Vorbilder wie die Verfolgung von Jesuiten, Freimaurern, Juden, Monopolkapitalisten und Kommunisten. Hier wird immer unterstellt, es gebe feste Absichten (zur Welteroberung) und eine bewusste Lenkung durch eine Führungselite. Manchmal geht es auch um die Trennlinien zwischen größeren Gemeinschaften, wenn zum Beispiel Religionen mit Monopolanspruch aufeinanderstoßen. Hofstadter prägt dazu den schönen Satz:

    Anti-Catholicism has always been the pornography of the Puritan.

    Geschichten über die sexuelle Freizügigkeit von Priestern, Nonnen und Mönchen, über Geldgier, alles verbunden mit Heuchelei, waren schon vor Jahrhunderten in Europa und Amerika verbreitet.

    Im 20. Jahrhundert kam zu diesen der Ausgrenzung und eigenen Machtdurchsetzung dienenden Legenden noch ein Aspekt hinzu. Nun hieß es und heißt es: Amerika wird durch fremde Mächte und ihre raffinierten Agenten enteignet und ausgebeutet und muss »wiedererobert« werden. Die guten amerikanischen Werte wurden zerstört – Kosmopoliten, Intellektuelle und die Presse haben einen großen Anteil daran. Dabei spielen die Medien eine doppelte Rolle: Einerseits sind sie die Schurken, andererseits Verbreiten sie die paranoide Agenda. Das amerikanische Talk Radio1, einige Fernsehkanäle und große Sektoren von Social-Media-Plattformen wirken am paranoiden Agenda Setting mit und bestärken düstere Ahnungen und Vorurteile.

    Windräder funken nach China

    Was hat die amerikanische Paranoia mit uns zu tun? Es ist nicht schwer, mindestens drei Schurken-Netzwerke auszumachen, die in täglich in den Äußerungen von Politikern, in Nachrichten, Kommentaren und Talks vorkommen. Rechtsextreme einschließlich der AfD, Russland (meist reduziert auf »Putin«) und China.

    Ein Beispiel.

    Vor der Nordseeinsel Borkum ist ein neuer Windpark geplant. Einwände dagegen kommen nicht nur von Umweltschützern, die Auswirkungen auf Seevögel und die Meeresfauna befürchten, sondern auch von Sicherheitspolitikern. Ohne IT-Expertise und ohne jeglichen Beleg behauptet beispielsweise der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, dass die geplanten 16 Windturbinen aufgrund ihrer aus China stammenden Technik die nationale Sicherheit gefährdeten und daher nicht gebaut werden sollten.

    Bericht im Manager Magazin:

    https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/bundeswehr-denkfabrik-warnt-vor-chinesischer-technologie-in-offshore-windanlagen-a-cdd14109–949c-4b90-b82e-502e6988cb91

    Interview mit Roderich Kiesewetter im NDR 04.03.2025

    https://www.ndr.de/nachrichten/info/Windpark-vor-Borkum-Sorge-um-Technik-aus-China,ndrinfo70744.html

    Auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser rät ab: China könnte verbaute Sensorik zu Spionagezwecken nutzen und die Energieversorgung stören.

    Artikel der Nordwestzeitung 03.03.2025

    https://www.nwzonline.de/wirtschaft/bundesinnenministerin-nancy-faeser-offen-fuer-verbot-kritischer-energie-komponenten-aus-china_a_4,1,4221402490.html

    CDU, SPD und Grüne sind sich also einig: Die Windräder bedrohen Deutschlands Sicherheit, besser ist es, die Verwendung chinesischer Technik zu verbieten.

    Ein mit der Windradtechnik vertrauter Journalist weist die schwarz-rot-grüne Geisterbeschwörung allerdings zurück:

    Die grundsätzlichen Bedenken über IT-Sicherheit bei Großkomponenten sind berechtigt, wenn es um die nationale Energieversorgung geht. Der möglicherweise aus Russland gesteuerte Cyberangriff auf einen Satelliten, der zu Beginn des Ukraine-Kriegs in 2022 hierzulande 6000 Windkraftanlagen lahmlegte, funktionierte allerdings auch ohne dass kritische Komponenten „Made in Russia“ waren. Und keine Turbine in der Nordsee bekommt eine direkte Standleitung nach China, egal wer der Hersteller ist. Dieses bequem vereinfachte Narrativ sollte mit Ende des Bundestagswahlkampfes einer ehrlichen Diskussion über die Energiewende weichen. Nachhaltige Stärkung der heimischen Industrie braucht jedenfalls mehr Substanz als das hastige Verbot eines Windparks, der am Ende ein Prozent vom Ausbauziel der nächsten fünf Jahre ausmacht.

    https://www.nwzonline.de/emden/offshore-ausbau-in-der-nordsee-debatte-um-chinesische-turbinen-im-windpark-vor-borkum-ist-peinlich_a_4,1,4244239915.html

    Nach der aus den USA importierten Idee, Mobilfunk-Technik von Huawei zu verbieten, die in 5G-Netzwerken installiert werden könnte, und der Kritik an der Beteiligung eines chinesischen Unternehmens an einem Terminal im Hamburger Hafen ist die Turbinen-Affäre nun schon das dritte Beispiel für eine unbelegte Meldung einer Bedrohungslage durch die weltumspannende chinesische Staatsverschwörung bzw. durch die Kommunistische Partei, wie einige Sprecher präzisieren (es könnte ja Rezipienten geben, denen »Kommunismus« noch etwas sagt).

    Demnächst

    Auf die Erscheinungsformen der speziellen medienpolitischen Paranoia komme ich in späteren Beiträgen in dieser Serie zurück.


    Douglas Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. Cambridge: Harvard University Press, 1996.

  • Prinzip Enttäuschung

    Niemand, der die folgenden zweihundert Seiten gelesen hat, möge sich der Hoffnung hingeben, auf dieser Basis die Wege Parsons’ verstanden zu haben und ihnen folgen zu können. Parsons’ Werk ist ein Labyrinth; ein Colosseum von Begriffen und Konzepten, das vermutlich dazu verurteilt ist, als gigantische Geistesruine am Wege der Geschichte zurückzubleiben. Der folgende Einführungstext ist nur eine Beschreibung. Wer zu Parsons will, muß sich in das Labyrinth selbst wagen.

    Berlin, Juli 1980 Stefan Jensen


    Jensen, Stefan: Talcott Parsons. Eine Einführung. Stuttgart: Teubner, 1980.

  • Inside Tagesschau

    Ungleich verteilt: Die Auslandsberichterstattung

    so heißt ein Kapitel in Alexander Teskes Buch Inside tagesschau.

    Teske berichtet aus dem Maschinenraum der Nachrichtenproduktion, er war selbst sechs Jahre lang Redakteur bei ARD aktuell. Hinter jeder Nachricht, die von der Tagesschau gebracht wird – und hinter jeder, die nicht gebracht wird – stehen Entscheidungen, die innerbetrieblichen Gefühlslagen entsprechen und ganz offenkundig nichts mit der Relevanz eines Geschehens für das deutsche Publikum zu tun haben. Zitat der stellvertretenden Planungschefin: »Mich interessieren die vielen Toten auf Sulawesi gar nicht. Bestell lieber ein Stück zu Kavanaugh«.

    Es muss sicher berücksichtigt werden, dass das Buch ein Produkt persönlicher Enttäuschungen ist und nicht von wissenschaftlicher Neugier – wie beispielsweise die ethnographische Studie Inside the TV Newsroom, die Tine Hassall Thomsen 2018 veröffentlichte. Die geschilderten Details sollten allerdings ausreichen, um die öffentlich-rechtlichen Unternehmensleitungen und Aufsichtsgremien aufzurütteln. Die eklatante Schieflage der Auslandsberichterstattung ist dabei nur eins der heiklen Themen, aber offenbar ein Korrelat der strukturellen Probleme des Tagesschau-Journalismus, wie ihn Teske darstellt.

    Relevanz ist, was zum Kapuzenpulli passt

    Mit vielen anekdotischen Beispielen schildert der Autor das Trauerspiel der zufälligen, von den jeweiligen Marotten und Stimmungslagen von Redakteuren und Chefs vom Dienst abhängigen Auswahlentscheidungen der Tagesschau-Beiträge. Allerdings: Nicht alles ist zufällig. In Hamburg-Lokstedt scheint das Motto zu gelten: Dem Adel verpflichtet. Vor allem die britischen Royals, aber auch andere Königsfamilien können mit ausführlicher Berücksichtigung auf Premiumplätzen rechnen, auch wenn bei ihnen gar nichts geschehen ist, außer dass wieder ein Jahr seit einer Krönung um ist.

    Teske erwähnt die »Haltungs«-Logik, die im täglichen Arbeitsablauf hinter vielen Entscheidungen der Chefs vom Dienst steht. Das gezielte Ausblenden von Details (zum Beispiel die Nationalität des Täters oder Opfers einer Gewalttat) und die Verweigerung einer zweiten Perspektive – bzw. überhaupt einer Perspektive, wenn ein Bericht die Autorität über ein Ereignis beansprucht – sind Wesenszüge der Tagesschau-Nachrichten. Sie sind schon oft von außen beobachtet und kritisiert worden, und nun eben von einem Insider, der berichtet, dass er seinen Widerspruch häufig, aber meist vergebens, artikuliert hat.

    Einseitigkeit gibt es bei der Tagesschau nicht einfach in Form der manchmal unterstellten Linkslastigkeit – für deren Existenz auch Teske durchaus Beispiele anführt. Er fokussiert hier besonders den ARD-Faktenfinder, der seinem Namen in keiner Weise gerecht wird, denn er sucht oder untermauert nicht Fakten für die eigenen Sendungen, sondern verbreitet ideologische Gegenpropaganda – gegen Russland, gegen die AfD usw. Als ganz besonders einseitig und blind zeichnet das Buch die systematische Ausblendung ostdeutscher Perspektiven in den Nachrichten. Die Vernachlässigung des Ostens – sozusagen Deutschlands Globaler Süden – ist zahlenmäßig leicht belegbar. Sie trägt dazu bei, dass im Westen Deutschlands wenig Verständnis für die Positionsunterschiede der Bürgerinnen in Ost- und Westdeutschland aufkommt, wenn es zum Beispiel um Krieg und Frieden (Ukraine) geht. Programmatisch einseitig ist und bleibt ohnehin auch die Darstellung und Kommentierung der Stellung Deutschlands zum Ukrainekrieg.

    Die dreiköpfige Chefredaktion bildet in Bezug auf die Lenkung der Tagesschau im Sinne des staatsvertraglichen Auftrags eine Leerstelle. Die Organisation von Sondersendungen, von prestigeträchtigen Kommentaren und des Programms von tagesschau 24 (eines Fernsehsenders, dessen Abschaltung niemand bemerken würde) ist offenbar eher ihre Domäne. Hinzu kommt die Bespielung von Social-Media-Plattformen mit Junk News, die vermutlich als alters- und mediengerecht gedacht werden.

    Keine Gegenvorschläge

    Alexander Teske macht keine expliziten Vorschläge dazu, wie die Tagesschau denn anders organisiert und produziert werden sollte. Die derzeitige Organisation, mit den schichtweise wechselnden Chefs vom Dienst als den jeweils Entscheidungsgewaltigen (während die Chefredakteure nur Hintergrundfiguren sind), mit dem Bestellsystem für Beiträge, die von Teams der Landesrundfunkanstalten zu erbringen sind und der quotenorientierten Perspektivenarmut, ist jedoch offenbar einer der Verursacher des täglichen systematischen Chaos bei ARD-aktuell. Die journalistische Qualität ist nicht so schlecht, weil die Beteiligten nicht besser könnten, sondern weil offenbar die gesamte Organisation die Reflexion der eigenen Arbeit im Lichte des öffentlich-rechtlichen Auftrags verweigert. Wie die Tagesschau nicht nur in der öffentlich-rechtlichen Eigen-PR, sondern tatsächlich zu einem bedeutenden Faktor der Meinungsbildung werden könnte, bleibt daher für uns Leser die offene Frage des Buchs.

    Dass der Autor sich gegen eine »moderative« Form der TV-Nachrichten wendet, weil sie ein Beispiel für deren zunehmende Boulevardisierung sei, möchte ich ausdrücklich nicht unterstützen. Eine vorgetragene Nachricht, die den Erzählton vermeidet und lehrbuchmäßig die journalistischen W-Fragen abklappert, lässt sich erfahrungsgemäß schlechter memorieren und in eigene Kommunikationen übersetzen als eine narrativ aufgebaute. Wie oft haben wir uns vor dem Bildschirm schon gefragt: Wo ist das passiert – wie heißt der – usw., weil das alles im ersten Satz vorkam, als wir uns noch gar nicht auf den Beginn eines neuen Beitrags in der Tagesschau eingestellt hatten. Ein narrativer, kontextualisierender Einstieg, der dann Schritt für Schritt in ein Ereignis einführt, ist aus psychologischer Sicht dazu weit besser geeignet. Und: Mit Boulevardisierung hat ein narrativer Meldungsaufbau absolut nichts zu tun. Verständlichkeit und Memorierbarkeit sind keine boulevardesken Faktoren, sondern die Voraussetzung für die doch so erwünschte »Anschlusskommunikation« über die Nachrichten.


    Alexander Teske: inside tagesschau. Zwischen Nachrichten und Meinungsmache. München: Langen-Müller Verlag, 2025.