Kurz und knapp: Nach einem Viertel des Buchs habe ich es weggelegt. Ulrike Draesner hat sich in die Lebenswelt von Kurt Schwitters von 1936 bis zu seinem Tod 1948 hineingedacht und zelebriert eine Teilnahme an seinem Alltag, nebst Frau, Sohn, Schwiegertochter, Geliebter. In diesee Anverwandlung breitet sie atemlos uninteressante Details aus. Des kranken Schwitters’ Überleben im norwegischen und englischen Exil ist für mich kein Stoff, den ich 450 Seiten lang durchhalte. Die drei Merzbauten werden ständig erwähnt, bekommen jedoch im Text nie eine konkrete Gestalt.
Wegen der expressiven Schreibweise vielleicht ein gutes Buch zum Vorlesen. Beim Selberlesen scheitere ich, weil ich das Gefühl habe, dass mir etwas aufgedrängt wird, was ich so nicht wissen will und genießen kann.
Ulrike Draesners Essaysammlung aus dem Jahr 2013 habe ich gelesen, um einen neuen Einstieg in ihr Schwitters-Buch zu finden, das ich im letzten Jahr schon angefangen hatte, dann aber unterbrach, weil ich mitten in einer anderen Arbeit mit vielen Lektürezwängen steckte. Es ist jetzt wieder auf meinem Plan, wie auch Draesners neuestes Buch Die Verwandelten. Diese beiden letztgenannten Texte sind als »Romane« gekennzeichnet, aber ich bin vorsichtig.
Heimliche Helden enthält Zweitveröffentlichungen von Lektüren und Würdigungen, die zum Teil als Nachworte geschrieben wurden. Qualität und Dichte sind recht unterschiedlich. Sehr angesprochen haben mich vier Arbeiten: über die Fab Four der Nibelungensaga, über Johann Peter Hebel, über den Insektenforscher Jean-Henri Fabre und über Tania Blixen. Die anderen enthalten weniger Substanz, und die über Hans Joachim Schädlich, Gerd-Peter Eigner und Gerhard Falkner lesen sich ein wenig wie Gefälligkeitsarbeiten. Der über Heinrich von Kleist ist als Begleitmusik zu Wolf Kittlers Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie akzeptabel, aber erinnert nur daran, auf jeden Fall auch dieses 1987 erschienene Werk Kittlers zur Kenntnis zu nehmen.
Bei den genannten vier Texten macht es (mir) große Freude, die Lektüre Draesners mit- und nachzuvollziehen, die immer mit Reflexion verknüpft ist. Ihre Interpretationen ermöglichen eine Teilhabe an den Erzählungen der Nibelungen, an der Arbeit von Hebel und Fabre und am Schicksal der vielfach gescheiterten autofiktionalen Autorin Blixen, die nicht verstand, was sie erlebt hatte (und beschrieb). Der Ton ist oft heiter-entspannt, aber die Beobachtungen Draesners sind sehr genau und fokussieren wichtige und interessante Punkte ihrer Gegenstände – ohne je dabei zu behaupten, es seien die wesentlichen. Ich finde, das macht gute Essays aus.
Heute im Netto-Supermarkt. Irgendwo im Kassenbereich kräht ein Kind: »Ich will es aber haben«, schreit, brüllt minutenlang. Ich erreiche die Kassenschlange und sehe, was los ist. Großvater, Mutter und der sechsjährige Tom ringen um eine Kinderzeitschrift, irgendetwas mit Lego. Großvater hält den Jungen fest, während die Mutter das Heft ins Regal zurückbringt. Tom schreit wie am Spieß. Zwischendurch kurz einmal verständlich: »Ihr habt versprochen, dass ich das haben darf.« Er darf es nun doch nicht haben? Warum? Gebrüll, Wutanfall mit violett-rotem Kopf, Aufstampfen, klischeeartig, wie in einem schlechten Bilderbuch. Ich kann Mutter und Sohn unmittelbar nach draußen folgen, während der Großvater noch an der Kasse beschäftigt ist. »Du hast das Heft doch schon«, sagt die Mutter. »Ich will es aber haben, ihr habt es versprochen« – und ein weiterer Wutausbruch mit inzwischen schon heiserem Geschrei. »Im März gibt es das nächste, das bekommst du dann.« »Ich will es aber nicht im März, ich will es jetzt haben!« »Wir kaufen doch nicht das Heft zweimal, das Du schon hast.« – »Doch, ich will das jetzt haben.« Ein unlösbares Problem. Seine Familie versagt ihm das Glück des neuen Hefts, weil der Verlag die Periodizität seiner Kinderzeitschrift noch nicht an die Erwartungen Toms angepasst hat. Ich hätte es gern ausprobiert: Wäre Tom glücklich geworden, wenn er das Februarheft ein zweites Mal bekommen hätte?
Die Wirtschaft, die meistbietende versucht, uns zu ihrem Vorteil einzureden, dass Kirche Kirche ist und Berg Berg – dass doppeltgemoppelt wird, – Soldat = Soldat, Panzer = Panzer, Krieg = Krieg. Wenn ich die Gleichungen mit Lesende = Lesende fortsetze, ist der Blödsinn umrissen. Sehen wir uns den Soldaten näher an, lesen wir ihn: — Hier wird Liebe befohlen, mit Gewalt für Liebe gesorgt. Der Soldat als Mittel seiner Abschaffung. Entsprechend der einzelne Panzer, der als Waffe benutzt wird, die die Nichtbenutzung von Waffen erkämpft. Der Panzer = das Kampfverbot. Das Kampfverbot = der Panzer. Der Panzer als Denkmal seiner Abschaffung. (…) Sich selbst entwaffnende Gewalt. Gewalt, die sich nach Anwendung aufhebt (was ihren Ein-für-allemal-Sieg voraussetzt). [60f.]
Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Ein Essay. Zürich: orte-Verlag, 1983